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Modellregionen

Ausschnittweise demonstriert werden soll das Potential eines literarischen Atlas Europas an drei ganz unterschiedlich beschaffenen Modellregionen: an einer alpinen Szenerie (Vierwaldstättersee/Gotthard), an einem Küsten- und Grenzgebiet (Nordfriesland) und an einem urbanen Raum (Prag). Die literarische Durchdringung dieser drei Räume wird über einen Zeitraum von rund 250 Jahren untersucht, von ca. 1750 bis in die Gegenwart.

Vierwaldstättersee/Gotthard
Abb. 1: Modellregion Vierwaldstättersee. Blick von der Rigi im Winter.

Abb. 1: Modellregion Vierwaldstättersee. Blick von der Rigi im Winter.

In der Tat kann man ohne Übertreibung sagen: Der Vierwaldstättersee und die Täler und Berggipfel, in die er so malerisch eingebettet ist, sind als Hauptorte auf der europäischen Landkarte der Literatur zu betrachten. Als georäumliche Gesamtheit vereint diese Gegend musterhaft die landschaftliche Vielfalt der Schweiz: Idyllische Abschnitte sind ebenso zu finden wie erhabene Situationen, was mit der realtopographischen Lage des Vierwaldstättersees zusammenhängt, im Übergang zwischen Mittelland und Hochgebirge. Je weiter man sich nach Süden, in Richtung Gotthard bewegt, desto dramatischer scheint die Landschaft. Die Gegend verfügt dabei in reichem Mass über jene Besonderheiten, die einen geographischen Ort zur Herausforderung an die Literatur werden lassen. Insgesamt ist dieser Ausschnitt aus dem Georaum verbunden mit einem schier unglaublichen Katalog klingender Autorennamen – darunter Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Heinse, Friedrich Hölderlin, Heinrich Heine, Achim von Arnim, Friedrich Schiller, William Wordsworth, Alexandre Dumas père, Alphonse Daudet, Leo Tolstoi, Fedor M. Dostojewski, Iwan Bunin, Mark Twain, Walter Scott, Mary Shelley, John Ruskin, James Fenimore Cooper, Johann Peter Hebel, D. H. Lawrence, Henry James, Samuel Butler, William Somerset Maugham, Gustave Flaubert, Arthur Rimbaud, Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, August Strindberg, Hermann Hesse, Robert Walser, Carl Spitteler, Max Frisch, Elias Canetti.

Nordfriesland
Abb. 2: Modellregion Nordfriesland. Das Watt bei Ebbe.

Abb. 2: Modellregion Nordfriesland. Das Watt bei Ebbe.

Eine amphibische Landschaft zwischen Wasser und Land. Die Westküste Schleswigs und Holsteins mit ihrem weiten und wenig abwechslungsreichen Marsch- und Geestland, den Halbinseln und Inseln, ihren verstreuten Bauernhöfen und wenigen, kleinen Städten ist eine an landschaftlicher Binnendifferenzierung arme, an kulturellen «Beschriftungen» umso reichere Landschaft. Seit Jahrhunderten besiedelt von Friesen, Dänen und Deutschen (und immer wieder Gegenstand kriegerischer Grenzstreitigkeiten), ist sie genuin mehrsprachig. Diese Landschaft – die etwa von Ribe im Norden bis zur Halbinsel Eiderstedt im Süden reicht – ist nun gerade um ihrer Abgelegenheit und Einsamkeit willen seit dem 18. Jahrhundert zunehmend (und in unterschiedlichster Weise) in Literatur und Kunst aufgesucht, dargestellt und nicht selten ideologisch instrumentalisiert worden. Das beginnt mit den ethnischen und politischen Auseinandersetzungen, die in den dänisch-deutschen Volkstums»-Streitigkeiten des 19. Jahrhunderts kulminieren und an denen die hier geborenen und/oder lebenden dänischen, deutschen und bikulturellen Autoren beteiligt waren, vom Stürmer und Dränger Heinrich Wilhelm von Gerstenberg und Heinrich Christian Boie über Theodor Mommsen, Friedrich Hebbel (aus Dithmarschen) und natürlich Theodor Storm, aber auch Hans Christian Andersen, der diese Landschaft bereist und ihre kulturellen Konflikte in einem seiner wichtigsten Romane dargestellt hat. Hier etablierte sich in der Frühen Moderne – und gegen sie – die verhängnisvolle «Heimatkunst»-Bewegung, die hier ein Zentrum und ein scheinbar ideales Anschauungsobjekt ihrer Agitation fand; hier wurde sie gewissermassen in den Faschismus überführt, dessen Vertreter in diesen Landstrichen ein Ideal deutscher Bauernkultur verwirklicht sahen. Umgekehrt ist nach 1945 diese Landschaft einerseits zum Modellfall einer europäischen Grenzregion, andererseits zum Gegenstand einer auf ganz neue Weise zivilisationskritischen Literatur geworden, als Rückzugsort und Schreibgegenstand für Dichter wie Sarah Kirsch, Siegfried Lenz, Günter Kunert u.a., aber auch für dänische Dichter der Moderne (Peter Seeberg u.a.).

Prag
Abb. 3: Modellregion Prag. Blick auf die Moldau und das Nationaltheater

Abb. 3: Modellregion Prag. Blick auf die Moldau und das Nationaltheater

Von Venedig einmal abgesehen, hat wohl kaum eine andere mitteleuropäische Stadt einen wirkungsmächtigeren literarischen Mythos hervorgebracht als Prag. Claudio Magris bezeichnet die Stadt an der Moldau als einen einzigen grossen Bildspender. Zarte Nebel, Zwielicht, Dämmerung, Traum, Märchenhaftigkeit, Unwirklichkeit, Romantik des Morbiden, Phantastischen, Phantasmagorischen, Dämonischen, eine Vorliebe für die Nacht, für die andere Seite… Es sind die Dichter, die diese Bilder und Begriffe unauflösbar mit der tschechischen Kapitale verknüpft haben: Meyrink spricht vom «dämonenhafte[n], unheimliche[n] Zauber der Stadt»; Franz Werfel schildert Prag als «Tagtraum», «Drogenrausch» oder «Fata Morgana des Lebens», Oskar Wiener nennt sie «unsagbar schön, aber verrucht». Im Zentrum der Untersuchung steht das System des «Prager Textes» und dessen topographisch-geographische Dimension. Es handelt sich um Texte, die Prag explizit oder implizit zum Schauplatz machen und dabei eine spezifische Aussage über diese Stadt treffen. Dabei wird die Topographie der Stadt, werden die einzelnen Gebäude, Quartiere, Strassenzüge durch die Jahrhunderte von ganz unterschiedlichen Interessensgruppen für sich reklamiert, bis hin zu der Flut von literarischen Texten, die nach 1989 erschienen sind. Diese Multicodiertheit des Stadtraums ist kein Spezifikum Prags, aber an diesem komplexen Beispiel, einem «hot spot» der Weltliteratur, kann man sie besonders gut ausloten.

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